Mehr Demokratie: Claudine Nierth und Roman Huber im Interview

Die Demokratie in Deutschland verliert an Zustimmung. Warum? Und könnten nach dem Zufallsprinzip zusammengestellte Bürgerräte etwas daran ändern? Antworten von Claudine Nierth und Roman Huber aus dem Vorstand von Mehr Demokratie.





Claudine Nierth, 56,
Künstlerin und Politaktivistin, engagiert sich seit 1980 für mehr Bürgerbeteiligung. Sie ist eine der ersten Mitglieder des Vereins Mehr Demokratie und seit 1998 Bundesvorstandssprecherin. Für ihr Engagement erhielt sie 2018 das Bundesverdienstkreuz. Seit 2022 ist sie zudem Sprecherin des Aufsichtsrates der Stiftung GLS Treuhand, die gemeinnützige Projekte der Zivilgesellschaft fördert.

Roman Huber, 57,
früher Unternehmer in der IT-Branche, ist seit 1996 im Bundesvorstand von Mehr Demokratie und seit 2001 Geschäftsführender Bundesvorstand. 2007 baute er die konsensdemokratisch lebende Gemeinschaft Schloss Tempelhof mit 100 Erwachsenen und 50 Kindern in Baden-Württemberg mit auf und lebt selbst auch dort.

brand eins: Frau Nierth, Herr Huber, im Sommer ging aus einer Umfrage hervor, dass nicht mal die Hälfte der Bevölkerung noch echtes Vertrauen in die Demokratie hat. Woran liegt das?

Claudine Nierth: Der Hauptgrund ist, dass wir zu wenig demokratische Erlebnisse haben. Wir wenden die Demokratie viel zu selten an. Alle vier Jahre einmal wählen. Das erleben viele Menschen fast als Beleidigung, als Degradierung auf ein Kreuz. Und weil die Politiker die großen Probleme dann meist nicht lösen können, führt das zu großer Frustration.

Roman Huber: Unser Staat hat ein Betriebssystem aus dem Jahr 1949 ohne nennenswertes Update. Es gab eine riesige Chance im Jahr 1989, eine neue Verfassung zu verabschieden, die beide Teile des Landes gleichermaßen berücksichtigt – die haben wir vertan. Jetzt leben wir in einer Welt, die so viel komplexer ist als damals, globalisiert, mit multiplen Krisen – man kann mit einem alten Betriebssystem keine komplexe Programmierung machen.

Sie wollen das System seit mehr als 30 Jahren mit mehr direkter Demokratie und Bürgerbeteiligung verbessern. In Ihrer beider Buch „Die zerrissene Gesellschaft“ schreiben Sie, dass das nicht funktioniert habe. Warum nicht?

Nierth: Als ich 1997 in Hamburg die ersten Volksinitiativen mitorganisierte, war meine Hoffnung: Wenn alle Menschen sich an politischen Prozessen beteiligen, kann die Intelligenz eines jeden miteinfließen, die Probleme werden schneller gelöst, und die Kultur des Miteinanders wächst. So kam es nicht. Volksbegehren mit Ja- oder Nein-Fragen haben die Polarisierung zuweilen verschärft, denn wir haben keine Kultur wie in der Schweiz, wo man es besser aushält, wenn sich bei solchen Abstimmungen die anderen durchsetzen. Bei uns sind das immer erbitterte Auseinandersetzungen mit tiefen Gräben.

Dass viele Menschen heute nicht mehr mit jenen reden wollen, die mit ihren Ansichten vermeintlich auf der falschen Seite stehen, beschreiben Sie auch als Grund für die Krise der Demokratie.

Nierth: Daher sind dialogische Formate wie Bürgerräte so interessant, in denen es nicht darum geht, durch Polarisierung Mehrheiten herzustellen, sondern ein Zusammenkommen zu organisieren, um zu überlegen: Was wäre für alle das Beste?

In Bürgerräten kommen zufällig ausgeloste Menschen ab 16 Jahren zusammen, die mit Alter, Herkunft, Wohnort und Bildung den Durchschnitt der Bevölkerung widerspiegeln sollen. Sie erarbeiten zu einem bestimmten Thema Handlungsempfehlungen für die Politik. Was finden Sie daran so gut?

Nierth: Dieser Prozess verwirklicht demokratische Kultur. Ich war eine große Skeptikerin, aber durchs Erleben von Bürgerräten habe ich kapiert, wie vielversprechend sie sind.

Huber: In einem Bürgerrat lösen sich alle Bubbles auf. Und das verändert die Menschen. Hinzu kommt: Je größer eine geplante Reform ist, desto mehr sollten Politiker die Bürger, die ja meist betroffen sind, daran beteiligen. Beispiel Wärmewende: Da müssen Häuser gedämmt werden – so etwas kann nicht rein politisch gelöst werden.

Ein paar Bürgerräte sollen eine Gesellschaft von mehr als 84 Millionen Menschen verändern?

Huber: Wir haben knapp 11.000 Gemeinden, wieso gibt es nicht in jeder Bürgerräte zu den drängendsten Themen? In diese Prozesse sollten auch Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft miteinbezogen werden. In Erlangen etwa haben 2022 ein Bürgerrat und eine sogenannte Stakeholder-Gruppe mit Firmen wie Siemens und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg einen Fahrplan entwickelt, wie die Stadt das 1,5-Grad-Ziel einhalten und bis 2030 klimaneutral werden kann. Wenn die Menschen anfangen, miteinander zu arbeiten, verschwinden die Vorurteile. Der böse Unternehmer. Der AfD-Wähler …

Nierth: Das Faszinierende ist, wie diese Bürgerräte funktionieren und was sie auslösen – die hohe Bereitschaft, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, da ist was dran, das uns weiterbringt.

Ist das die Demokratie der Zuneigung, für die Sie in Ihrem Buch werben?

Nierth: Noch leben wir in einer Demokratie der Abneigung und Ausgrenzung. Du bist anders als ich, deswegen will ich nicht mit dir an einem Tisch sitzen. Der Bruch, die Distanz zu Andersdenkenden, ist Teil unserer Kultur geworden. Je mehr es auseinander- und hochhergeht, desto höher sind die Einschaltquoten in Talkshows. In einer Demokratie der Zuneigung, wie ich sie meine, halten wir die Verbindung zum Gegenüber, auch wenn wir dessen Position nicht teilen, und fragen: Wo ist bei aller Unterschiedlichkeit das Gemeinsame?

Nicht alle Menschen wollen mehr Verständnis für andere aufbringen.

Huber: Ich komme gerade aus Kroatien, wo in Rijeka der erste Bürgerrat des Landes stattgefunden hat. Es ging um die Verbesserung der lokalen Verwaltung und um mehr Bürgerbeteiligung. Im Balkan ist das Interesse, sich politisch einzubringen, angeblich noch geringer. Die Gruppe war sehr divers, vom Kriegsveteranen bis zum Studenten, Leute, die nie miteinander reden würden. Aber dieses „ich“ und „die anderen“ blättert in so einem Moment ab und alle wollen sich aufeinander beziehen. Das Format überlistet die Menschen. Das ist die Magie.

Was bewirkt die Aussicht, Einfluss auf die Politik nehmen zu können?

Nierth: Beim Unterschriftensammeln merken wir immer: Jeder weiß es besser. Wir stehen am Spielfeldrand und denken, wir sind die superkompetenten Beurteiler des Spiels. Aber sobald der Trainer uns aufs Spielfeld holt, kriegen wir weiche Knie. Dann werden wir ein bisschen kleinlauter und auch ernsthafter, weil wir nun in der Verantwortung sind. Die Haltung verändert sich.

Weil die Menschen merken, wie anspruchsvoll die Arbeit von Politikerinnen und Politikern ist?

Huber: Es gibt bei einem komplexen Thema nie die eine Lösung, sondern immer mehrere gute Ideen, die man gegeneinander abwägen muss. Wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Bürgerrats das erleben, entwickeln sie wieder mehr Wertschätzung gegenüber der Politik.

Wie sollen Bürger in solchen Formaten Lösungen für komplexe Probleme finden, an denen Politiker scheitern?

Nierth: Bürgerräte geben eine Richtung vor. Sie zeigen der Politik – nach einer faktenbasierten Auseinandersetzung mit genügend Zeit – was im Land bei bestimmten Themen mehrheitsfähig wäre und welche Aspekte den Menschen wichtig sind.

Was wir gegen die Klimakrise tun können, wäre für Sie keine zu große Frage für einen Bürgerrat?

Huber: Es gibt Klimabürgerräte – die sind ein Beispiel für zu viel Komplexität. Bei denen werden meist Untergruppen gebildet zu Energie, Wärme, Verkehr, Landwirtschaft und Industrie. Im Grunde finden fünf Bürgerräte gleichzeitig statt, aber am Ende müssen alle auch über die Themen abstimmen, mit denen sie sich nur wenig beschäftigt haben. Grundsätzlich gilt: Je spezifischer die Fragestellung und das Thema, desto besser.

In der Regel geben Politikerinnen und Politiker die Bürgerratsthemen vor. Müssten Bürger sich diese nicht selbst aussuchen können, um wirklich beteiligt zu werden?

Huber: Das wäre eine weitere gute Möglichkeit. Wenn eine bestimmte Anzahl von Unterschriften zu einem Thema zusammenkommt, muss es einen Bürgerrat geben – wie bei einem Bürgerbegehren. Solche Regelungen gibt es bereits in einigen Gemeinden, und Baden-Württemberg will das auf Landesebene einführen.

Und wenn die Leute dann einem Bürgerrat zum Thema Migration machen wollen?

Huber: Ein Bürgerrat in Sachsen mit einem Drittel AfD-naher Leute wäre super. Und dann alle Seiten zusammenholen und auch mal den geflüchteten Jungen aus dem Jemen hören.

Die Gemeinde Hebertshausen bei München hat zum Beispiel mehr als fünfmal so viele Geflüchtete aufgenommen, als sie müsste. Das halbe Dorf ist eingespannt, die zu integrieren – das läuft richtig gut.

Würden AfD-Leute solche Runden nicht nutzen, um Stimmung gegen Geflüchtete zu machen?

Nierth: Wieder das Beispiel mit dem Spielfeldrand: Sobald die Stimmungsmacher sich konstruktiv einbringen können, ändert sich ihre Haltung. Und es sind ja nicht nur sie, sondern alle Positionen am Tisch. Bürgerräte sind Schmelztiegel für harte Fronten.

Die Empfehlungen eines Bürgerrats sind nicht bindend. Die Aktivisten der Letzten Generation fordern einen Gesellschaftsrat zur Klimakrise, dessen Anweisungen das Parlament umsetzen müsste. Ist so ein Konzept nicht besser?

Nierth: Zwischen diesen Formaten gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die Letzte Generation verspricht sich von dem Instrument, dass die Ergebnisse herausrauskommen, die sie für richtig hält. Bürgerräte sind dagegen Dialogformate mit offenem Ausgang.

Huber: Mit einem Gesellschaftsrat käme die Frage auf, warum Menschen, die wir nicht gewählt haben, Gesetze machen dürfen. Wir wollen die parlamentarische Demokratie aber nicht schwächen, sondern stärken.

Es gab 2019 schon mal einen bundesweiten Bürgerrat zur Frage, wie die Demokratie in Deutschland verbessert werden kann. Davon wurde politisch nicht besonders viel umgesetzt.

Huber: Das stimmt nicht. Eine der entscheidenden Empfehlungen war: Wir brauchen Bürgerräte. Die hat der Bundestag offiziell aufgegriffen – und sogar eine eigene Stabsstelle für Bürgerräte geschaffen. Eine weiterführende Idee wäre ein Demokratie- oder Zukunftsministerium.

In Sachsen wurde das Justizministerium um das Ressort Demokratie erweitert. Große Erfolge sieht man noch nicht.

Huber: In Sachsen läuft wieder die alte Parteienlogik: Der Ministerpräsident, CDU, will seinen Bündnispartner, die Grünen – die das Ministerium führen – möglichst wenig durchsetzen lassen. Für ein Demokratie- oder Zukunftsministerium wäre entscheidend, dass es nicht nur von den Regierungsfraktionen geführt wird, sondern von allen Fraktionen, damit Projekte zur Stärkung der Demokratie unabhängig von Legislaturperioden fortgesetzt werden können.

Gibt es Ansätze aus anderen Ländern, die wir übernehmen sollten?

Nierth: Deutschland ist ein Land der Innovation, wir haben viele Erfindungen und die beste Technik in die Welt exportiert. Warum trauen wir uns nicht auch bei sozialen und politischen Fragen zu, Vorreiter zu werden?

Was schwebt Ihnen da vor?

Nierth: Erst mal müssen wir uns der Realität stellen: Wir haben ein Problem. Allein das löst bei vielen Politikern aber schon die Angst aus, man wolle an den Grundmauern der Demokratie rütteln. Alle Lebensbereiche verändern sich – wer entwickelt die Demokratie weiter, damit sie auch der gesellschaftlichen Realität entspricht?

Müssten sich nicht auch politische Prozesse ändern?

Nierth: Ein ähnliches Vorgehen wie bei Bürgerräten könnte ich mir für parlamentarische Prozesse vorstellen. Aus den 736 Abgeordneten werden Teams gebildet, die Eckpunkte für Gesetzentwürfe zu bestimmten Themen erarbeiten. Externe Moderatoren begleiten den Prozess, die Fraktionsdisziplin ist aufgehoben. Natürlich bringen die Abgeordneten die Meinungen ihrer Parteien mit ein, aber noch viel mehr von dem, was sie sonst noch wissen. Im Bundestag sitzt sehr viel Kompetenz, die nicht genutzt wird.

Wollen Sie die Parteien abschaffen?

Nierth: Die Parteienlogik ist für mich doch nur bis zur Wahl wichtig, damit ich weiß, wer welche Position hat. Sobald die Abgeordneten im Bundestag sind, möchte ich alle die nächsten vier Jahre an den wichtigen Fragen werkeln sehen. Und da frage ich mich: Wir haben sechs Fraktionen im Bundestag, warum arbeiten die nicht in Teams zusammen? Warum haben wir keine Konkordanzdemokratie?*

Es ist doch absurd, dass Vorschläge der Opposition nicht aufgegriffen werden. Wären in jedem Ministerium die Farben aller Fraktionen vertreten, könnten die Gesichtspunkte und die Kompetenz aller miteinfließen. Alle könnten bei allen Vorhaben mitgehen, weil sie ihre Anliegen berücksichtigt sähen. Wir kämen von einer Machtpolitik stärker in eine Sachpolitik.

Haben Sie Politikerinnen und Politiker schon mal gefragt, wie die das fänden?

Nierth: Wenn man in diesem System sozialisiert ist, ist es erst mal befremdlich, darüber nachzudenken, ob es anders besser funktionieren könnte. Und Demokratiefragen sind auf der To-Do-Liste immer ganz hinten, da das Tagesgeschäft zu viel Raum einnimmt. Deswegen fände ich es klug, einen ständigen Demokratieausschuss oder ein Demokratieministerium zu haben – und es bräuchte den Mut, Dinge auszuprobieren oder mal anders zu machen. Viele Politiker sind ebenfalls unzufrieden, weil sie bei Weitem nicht das umsetzen können, wofür sie sich haben wählen lassen.

Junge Menschen haben besonders wenig Vertrauen in die Demokratie. Brauchen wir ein Wahlrecht ab 16?

Huber: Auf alle Fälle.

Nierth: Bevor du dich auf die Straße klebst, geh’ lieber in die Gemeindepolitik.

Schaden die Aktionen der Letzten Generation der Demokratie?

Huber: Ich finde zivilen Ungehorsam absolut legitim. Dass junge Menschen mit einer anderen Konsequenz und Dringlichkeit auf Dinge schauen, finde ich richtig. Mir gibt eher der Umgang der Gesellschaft mit ihnen zu denken. Die Jungen halten uns den Spiegel vor, und wir sagen: Der Spiegel ist blöd – der ist schuld an meinem Gesicht.

Welche Rolle spielen Abstiegs- und Zukunftsängste bei der Unzufriedenheit der Menschen?

Huber: Eine große. Ich bin aufgewachsen in dem Klima, wenn wir so weitermachen, wird schon alles gut. Diese Grundzuversicht ist weg.

Nierth: Auf der Straße ist man mit den Sorgen, Nöten und Ängsten der Leute konfrontiert. Die sind größer als früher, und die Menschen fühlen sich mit ihnen stärker alleingelassen.

Die resignierte Rentnerin, die nicht über die Runden kommt, der Mittelstandsunternehmer, der vor Regularien nicht mehr weiß, wie er seine Aufträge bewältigen soll, die junge Studentin, die sagt: ‚Ich habe keine Zukunft.‘ Denen brauchst du nicht mit Argumenten kommen. Erst mal musst du ernst nehmen, was sie emotional beschäftigt – und ihre Frustration akzeptieren. Es ist ein großes Problem, dass wir immer versuchen, die Frustration wegzuargumentieren.

Sie schreiben in Ihrem Buch, für ein besseres Miteinander sollten wir uns mehr mit unseren Ängsten beschäftigen.

Huber: Unser politisches System beruht auf der Theorie, dass wir Optionen sachlich gegeneinander abwägen und so zu guten Ergebnissen kommen. Aber in der Regel gibt es keine wirklich rationalen Diskurse, weil die emotionale Ebene diese so stark beeinflusst.

Nierth: Denken Sie an die Pandemie. Da haben so viele Ängste vorgeherrscht: Angst vor Krankheit. Angst, die Existenz zu verlieren. Angst vor staatlicher Übermacht. Wer Angst vor Krankheit hatte, war für 365 Tage Lockdown, wer um seine wirtschaftliche Existenz fürchtete, wollte das Gegenteil. Wir haben über die Richtigkeit der Maßnahmen diskutiert und jeder argumentierte mit seiner Angst. Aber über die Angst selbst wurde nie gesprochen. Das wäre hilfreich gewesen.

Wie viele Menschen sind gar nicht mehr zu erreichen?

Nierth: Ich würde sagen 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Nach der Pandemie hat das stark zugenommen. Die Frage ist trotzdem, ob man von einer Krise der Demokratie sprechen sollte oder nicht eher von einer Unzufriedenheit mit der Politik …

Sie schreiben in Ihrem Buch: „Die Demokratie ist der Rahmen für kontroverse Debatten und Auseinandersetzung. Wird jedoch die Auseinandersetzung und damit die Polarisierung so groß, dass die Demokratie selbst angezweifelt wird, droht der gesellschaftliche Zusammenhalt auseinanderzubrechen.“ Man kann doch von Krise sprechen?

Nierth: Im Buch steht auch: „Eine Krise entsteht dann, wenn ein nächster Entwicklungsschritt ansteht, aber nicht vollzogen wird.“ Das kennen wir aus dem eigenen Leben. Es stimmt, dass wir gerade eine ähnliche Situation mit der derzeitigen Form unserer Demokratie haben. Wir müssen den Rahmen für unsere Aushandlungsprozesse daher so erweitern, damit er stark genug ist für das, wofür er Halt geben soll: globale Krisen und individuelle Nöte. Dazu muss die Demokratie demokratischer werden.

Eine vollkommen demokratische Demokratie wäre schon eine Utopie, oder?

Huber: Ja.

Nierth: Nö. Würde ich so denken, müsste ich jetzt in Rente gehen. ---

*In der vorherrschenden Konkurrenzdemokratie werden Konflikte vor allem durch politische Mehrheiten und Parteien-Wettbewerb gelöst, in einer Konkordanzdemokratie (auch Verhandlungs- oder Konsensdemokratie) dagegen durch Verhandlungen und Kompromisse. In Europa gelten die Schweiz und Luxemburg als dominant konkordanzdemokratisch. In der Schweiz werden gemeinsam gefällte Beschlüsse von allen Regierungsmitgliedern nach außen vertreten, die Hauptopposition sind Bürgerinnen und Bürger, die mittels direkter Demokratie in den politischen Prozess eingreifen können.

Bürgerräte gibt es in vielen Ländern. In Frankreich etwa sprach sich ein Bürgerrat im April 2023 für die Legalisierung der Sterbehilfe aus, in Kanada erarbeitete ein solcher im September 2022 Empfehlungen, wie die Regierung gegen Hass und Desinformation im Internet vorgehen sollte, in der Schweiz gab es kürzlich erstmals einen Jugend-Bürgerrat zu psychischer Gesundheit. Häufige Themen sind: Klimakrise, Demografie, Gesundheit, Sicherheit, Stadtentwicklung, Bildung, Verfassungsänderungen.

In deutschen Kommunen fanden bisher knapp 100 Bürgerräte statt, auf Länderebene 11, auf Bundesebene 7 (darunter zu KI, Forschung, Bildung, Demokratie). Das Thema des ersten Bürgerrats des Bundestages lautet: „Ernährung im Wandel“. Die 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erarbeiten von September 2023 bis Ende Februar 2024 neun Handlungsempfehlungen für das Parlament zu folgenden Themen: Labels für Lebensmittel, Tierhaltung und Tierwohl, Bezahlbarkeit von Lebensmitteln.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) empfiehlt: Bürgerräte sollten eine Größe von 35 bis 200 zufällig ausgewählten Personen haben, die einen Querschnitt der Bevölkerung abbilden. Eine neutrale Moderation soll sicherstellen, dass alle Bürger sich gleichermaßen beteiligen können, zudem erhalten diese Informationen durch Experten. Für Wissenserwerb und Austausch soll ausreichend Zeit sein, viele der Gremien tagen monatelang. Beim Bürgerrat des Bundestages erhalten die Teilnehmer für jede Sitzung eine Aufwandsentschädigung, bei Präsenzterminen werden ihnen zudem Anfahrt und Unterkunft bezahlt.

Wie viel können Bürgerräte bewirken? Die Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel, die an der Goethe-Universität Frankfurt die Forschungsstelle Demokratische Innovationen leitet, sagt: „Ich halte es für eine Illusion, dass diese eine Form der Bürgerbeteiligung uns rettet. Meiner Ansicht nach müssen verschiedene Verfahren zum Einsatz kommen, um die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zur erreichen. Für junge Menschen sollte es Online-Verfahren geben – lädt man ins Rathaus, erscheint eine andere Gruppe.“ Geißel sagt weiter: „Bürgerräte haben den großen Vorteil der Zufallsauswahl. Alle Verfahren sollten miteinander und mit direkter Demokratie verknüpft werden. Damit Bürgerräte wirken können, ist entscheidend, wie Politiker damit umgehen. Es gibt Studien, dass diese sich gerne die Empfehlungen rauspicken, die in ihr Konzept passen und die anderen ignorieren. Die Bürger erwarten aber, dass ihre Empfehlungen ernst genommen werden und sie zumindest gute Rechenschaft darüber erhalten, warum etwas nicht umgesetzt wird. Wichtig ist zudem mediale Aufmerksamkeit. Grundsätzlich bräuchte es meiner Meinung nach viel mehr Diskussionen mit Bürgerinnen und Bürgern darüber, in welcher Form der Demokratie sie leben wollen. Das sollten positive und zukunftsgewandte Debatten sein – die zum Beispiel an einem bundesweiten ‚Deliberation Day‘ in Schulen, Universitäten und Firmen geführt werden könnten.“

Anteil der Menschen weltweit, in Prozent,
… die 2012 in einer Demokratie lebten: 54
… die 2022 in einer Demokratie lebten: 28

Anteil der Menschen in Deutschland, die bei einer Umfrage der Körber-Stiftung im August 2020 angaben, Vertrauen in Parteien zu haben, in Prozent: 20

Anteil der Menschen in Deutschland, die bei einer Umfrage der Körber-Stiftung im August 2023 angaben, Vertrauen in Parteien zu haben, in Prozent: 9

Anteil der Menschen in Deutschland, die sich bei der Umfrage im August wünschten, stärker an wichtigen Entscheidungen beteiligt zu werden, in Prozent: 86

Drei Beispiele aus anderen Ländern von Roman Huber, Claudine Nierth, Brigitte Geißel:

1. Madrid entwickelte 2015 die Open-Source-Software Consul Democracy für digitale Bürgerbeteiligung. Das Tool ermöglicht Städten und Stadtvierteln, auf Basis von Behördendaten Wahlen oder Online-Abstimmungen durchzuführen. Außerdem können damit geplante Gesetzesänderungen oder -vorhaben vorab diskutiert werden. Bürgerinnen und Bürger haben die Möglichkeit, Vorschläge für Projekte einzureichen, die sie mit öffentlichen Geldern umsetzen möchten. Inzwischen wird das Programm in 35 Ländern, darunter Deutschland, genutzt.

2. Als Vorbilder für Bürgerräte werden oft jene in Irland genannt, die sich 2015 und 2017 den Fragen widmeten, ob die gleichgeschlechtliche Ehe in der Verfassung eingeführt und das Abtreibungsverbot aus ihr gestrichen werden sollten. Der Bürgerrat sprach sich in beiden Fällen dafür aus, woraufhin das irische Parlament landesweite Referenden ansetzte. Bei diesen stimmte auch eine Mehrheit der Bevölkerung für die gleichgeschlechtliche Ehe und für ein Recht auf Abtreibung. Die von den Bürgern mitgestaltete Debatte über diese Themen hatte einen Wandel in der zum Teil streng katholischen Gesellschaft ausgelöst, ohne sie zu spalten.

3. Es gibt in Europa bereits Städte (in Deutschland Aachen) oder Regionen, die ständige Bürgerräte (mit wechselnder Besetzung) eingeführt haben. Das erste Land, das diese auf nationaler Ebene eingeführt hat, ist Belgien. Dort sollen Bürgerinnen und Bürger das Parlament seit einiger Zeit entweder in Ausschüssen mit Abgeordneten oder in Bürgerräten dauerhaft beraten.