Schatzsuche

Karl-David Schlehenkamp war Wirtschaftsprüfer. Jetzt ist er Schrotthändler. Weil’s spannender ist.




• Karl-David Schlehenkamp, 42, steht zwischen Bergen aus Schrott im braunen Schlamm. Links von ihm bugsiert ein monströses Schubfahrzeug mit heulendem Motor einen Eisenbahnwaggon über das Gelände. Es sieht aus wie eine Rangierlok mit Gummireifen. Rechts von ihm greift sich ein Bagger mit Klauenhänden zu Klumpen gepresste Autos. Hinter ihm zerfetzt eine Schrottschere unter ohrenbetäubendem Kreischen tonnenweise Waschmaschinen, Bleche und einen Motorroller in handliche Stücke.

Könnte die Kulisse für einen zweitklassigen Film über das Ende der Welt sein. Ist aber eine erstklassige Reality-Show der Abfallwirtschaft aus München. Jedes Jahr sammelt die Alfa-Gruppe mit 850 Beschäftigten rund 1,8 Millionen Tonnen Metallmülll ein, sortiert und schreddert ihn, um die Teile dann für 700 Millionen Euro an Stahlhersteller zu verkaufen.

Wenn man Frau Schlehenkamp fragt, was ihr Mann beruflich macht, dann sagt sie beschönigend, er sei in der Entsorgungsbranche. Er selbst sagt: „Ich bin Schrotthändler.“ Das klingt weniger schön. Aber er ist stolz auf seinen Beruf. Außerdem komme er aus dem Ruhrgebiet. „Da fühlt man sich dem Schrotti von nebenan verbunden.“

Eigentlich hatte Schlehenkamp andere Pläne für sein Leben. Er studierte Betriebswirtschaftslehre in Bamberg, arbeitete anschließend für Deloitte, eines der größten internationalen Beratungsunternehmen. Statt als Wirtschaftsprüfer durch die Welt zu düsen, so wie er sich das vorgestellt hatte, saß er dann in München am Schreibtisch. „Mein Job?“, sagt er: „Acht Stunden am Tag Excel-Listen programmieren.“

2009 stellte er sich bei einer Unternehmensberatung in Paderborn vor. Das Gespräch sei so semi gelaufen, sagt er. Auf der Rückreise nach München sah er eine Anzeige der Alfa-Gruppe. Die suchte einen Key Account Manager im Recycling-Bereich.

Er bewarb sich und fuhr im blauen Anzug mit roter Krawatte in die Firmenzentrale nach Gräfelfing bei München. Blauer Anzug für die Seriosität. Rote Krawatte für die Dynamik. Als ihm klar wurde, dass mit „Key Account Manager“ Schrotthändler gemeint war und mit „Recycling-Bereich“ Altmetall, fand er den Job schon so gut, dass er den Vertrag unterschrieb. Seine Schwiegermutter war konsterniert, aber Schlehenkamp sah das anders: „So ein Schrottplatz ist doch eigentlich nichts anderes als ein großer Abenteuerspielplatz für Männer.“ Volles Kontrastprogramm zu Deloitte. Er besorgte sich Sicherheitsschuhe mit verstärkter Kappe, Warnweste, Schutzbrille und Helm.

„Aber raten Sie mal, was ich zuerst machte?“, fragt Schlehenkamp. „Excel-Listen programmieren!“ Er brachte die Buchhaltung der Firma auf Vordermann. Danach habe er wochenlang „wie ein aufgezogenes Duracell-Häschen“ im Büro herumgesessen, seine Kollegen draußen hatten keine Verwendung für den Ex-Deloitte-Mitarbeiter. Dann erbarmte sich sein Chef und schickte ihn im Opel Corsa mit 45 PS in den bayerischen Wald. Schrott kaufen.


Hat mit dem Handel von Metall-Abfällen seine Berufung gefunden: Karl-David Schlehenkamp, einer der Geschäftsführer der Alfa-Gruppe aus Bayern

Aufstieg zum Schrottmakler

„Ich hatte von nichts eine Ahnung, aber die Europäische Schrottsortenliste mit Fotos als Excel-Datei dabei“, sagt Schlehenkamp. E 1 leichter Stahlaltschrott, E 3 schwerer Stahlaltschrott, E 6 leichter Stahlneuschrott verdichtet („frei von Beschichtungen“), E 40 Schredderstahl-Altschrott („in keinem Fall größer als 200 Millimeter für 95 Prozent der Ladung“), EHRM alte und neue Maschinenteile („kann Gusseisenstücke enthalten“). Schlehenkamp kam mit tonnenweise Schrott zurück und wurde zum Streckenhändler befördert.

Streckenhändler sind Schrottmakler. Sie kaufen Altmetall ein und verkaufen es an Gießereien und Stahlwerke, in Schlehenkamps Fall vor allem nach Norditalien. Der Beltrame-Konzern in der Gegend von Padua ist einer der Hauptkunden. Bei 3.500 Grad Celsius wird der Schrott dort in Lichtbogenöfen wieder zu Eisen geschmolzen. „Norditalien ist von Bayern aus 400 Kilometer entfernt, Thyssenkrupp in Duisburg ist 600 Kilometer weit weg“, sagt Schlehenkamp.

Zorba, geschreddertes Aluminium, gehe meist nach China, die Qualität reiche für eine weitere Verwendung in Deutschland nicht aus. Sicherheitsschuhe, Warnweste und Helm brauchte Schlehenkamp als Streckenhändler nicht. Sie blieben im Spind.

Erst 2012, nachdem er schon ein paar Jahre im Betrieb war, wurde er auf einem der 25 Schrottplätze der Firma in Bayern und Österreich aktiv. Der Chef schickte ihn auf die größte Anlage, 100.000 Quadratmeter, die Fläche von 14 Fußballfeldern, lang gestreckt zwischen zwei Bahntrassen in Aubing am westlichen Stadtrand von München. Der Betrieb hatte jahrelang Verluste eingefahren. Schlehenkamp sollte das ändern. Mit besseren Abläufen, mehr Digitalisierung, weniger Maschinenausfallzeiten.

Er hatte Erfolg, wurde 2013 Chef des Schrottplatzes und 2014 zusätzlich einer der Geschäftsführer der Alfa-Gruppe, zu der mehr als 20 Firmen gehören. Über die TSR Recycling GmbH & Co. KG gehört der Konzern mehrheitlich zum Recycling-Riesen Remondis in Lünen, Westfalen. Hinter Remondis wiederum steht die im Familienbesitz befindliche Rethmann-Gruppe. Die Rethmanns zählen zu den reichsten Familien Deutschlands. Ihr Vermögen wird auf mehr als sechs Milliarden Euro geschätzt.

Seit Rohstoffe weltweit knapp werden, sind Schrott und anderes wiederverwendbares Altmaterial begehrte Güter – und ein Milliardengeschäft geworden. Statt hemdsärmeliger Schrotthändler im Blaumann dominieren jetzt smarte Betriebswirtschaftler in Boss-Anzügen die Branche und müssen nicht einmal mehr mit einem Imageschaden rechnen. Ganz im Gegenteil: Sie gelten als Helden der Kreislaufwirtschaft.

Die Bundesvereinigung Deutscher Stahlrecycling- und Entsorgungsunternehmen rechnet auf ihrer Homepage vor: Pro Jahr würden in Deutschland etwa 37 Millionen Tonnen Rohstahl produziert. Knapp die Hälfte davon aus Schrott. Das spare angeblich 28 Millionen Tonnen CO2 und sechs Millarden Euro ein.

Schlehenkamp hat allerdings gerade ein Problem. Er muss sehen, wo er Schrott herkriegt. 17 Anrufe in Abwesenheit auf dem Handy. Er presst das Gerät ans Ohr, damit er in dem Krach neben der Schredderanlage hört, worum es geht. „15.000 Tonnen Stahlspäne, beste Qualität. As soon as possible.“ Das bringe ihm sechs Millionen Euro. Umsatz, keinen Gewinn. Nur wenn Schlehenkamp mehr als 15 Euro pro Tonne verdient, kann er rote Zahlen vermeiden. Seinem Grinsen nach scheint das bei diesem Auftrag zu klappen.

Die Margen im Schrott-Business sind auch wegen des intensiven Wettbewerbs vergleichsweise niedrig (neun Prozent gelten als Traumziel). Dafür müssen die Betriebe mit gewaltigen Mengen jonglieren: Die Alfa-Gruppe etwa verkauft im Jahr ungefähr 1,3 Millionen Tonnen Eisen, selbst beim Minimalziel von 16 Euro pro Tonne kommt da einiges zusammen.

Schlehenkamp hat viele Bezugsquellen. Das ist wichtig, denn wenn der Kunde aus Italien 15.000 Tonnen Stahlspäne haben will, muss er schnell wissen: Was hat er auf dem Hof, und was muss er noch einkaufen?

Für Schlehenkamp zahlten sich die Opel-Corsa-Touren und die Kontakte, die er dabei knüpfte, aus. Altschrott kommt von den Wertstoffhöfen in München, mit denen er Zwei-Jahres-Verträge hat, und von Bekannten aus Süddeutschland und Österreich, die zum Beispiel Autos verwerten. Neuschrott bezieht er aus großen Fabriken: Produktionsabfälle von BMW, MAN, Krauss-Maffei und Siemens.

Lastzüge karren die Ware nach Aubing. Dort wird sie gewogen und dann von Baggern in einen Vorzerkleinerer namens Pre-Shredder Blue Devil gestopft, der mit Doppelwellen-Rotationsscheren alles in handliche Pakete zerteilt. Kühlschränke, Waschmaschinen, zu Würfeln gepresste Kraftfahrzeuge. Sogar Gaskartuschen, die manche illegal im Stahlschrott auf den Münchner Wertstoffhöfen entsorgen. „Das zischt nur kurz und macht nichts weiter – keine Explosion“, sagt Schlehenkamp.

Gefährliche Stoffe im Müll

Explosionen kann er gar nicht gebrauchen. Vor fünf Jahren begann sein Schrottplatz mitten in der Nacht zu brennen. Der Auslöser wurde nie ermittelt. 80 Feuerwehrleute waren nötig, um den Brand zu löschen. Die Qualm- und Dampfwolke stand stundenlang über dem Gelände. Die Behörden forderten die Nachbarn auf, die Fenster zu schließen. Das gab Ärger. Recyceln finden zwar alle gut, aber belästigt oder vergiftet werden will selbstverständlich auch niemand.

Der Ärger legte sich erst wieder, als laut Luftproben der Münchner Feuerwehr klar war, dass keine Schadstoffe in Luft oder Grundwasser entwichen waren. Das Unternehmen hat sich gegen solche Risiken gewappnet: Der ganze Schrottplatz ruht auf einer Betonplatte, gegen Feinstaub kämpft eine Schneekanone mit Sprühnebeln, das Abwasser wird mit einem zwei Millionen Euro teuren Ölabscheider gereinigt. Mindestens einmal im Jahr prüft das Münchner Referat für Klima- und Umweltschutz, ob die Bundesimmissionsschutzverordnung eingehalten wird und die Löschhydranten funktionieren. „Die sind ziemlich pingelig“, findet Schlehenkamp.

Hinter dem Blue Devil steht die eigentliche Schredderanlage, sie ist so groß wie ein Vorstadtbahnhof und zerfetzt den gehackten Schrott aus dem Blue Devil in kleine Späne.

Die Anlage besteht aus Zick-Zack-Sichter, Wirbelstromabscheider, Trommelmagneten und einer Siebanlage. Plastik und Kunststoffe, zum Beispiel von Armaturenbrettern der zusammengepressten Autos, fliegen raus. Auch Kupfer, Messing und Aluminium werden abgefangen.

Kupfer ist das wertvollste Material: Dafür gibt es 7.000 Euro pro Tonne und einen Werkschutz, der nachts aufpasst, dass nichts davon wegkommt. Kupferdiebstahl gehört zum Geschäft der organisierten Kriminalität, auch bei Alfa wurde schon zugeschlagen. Aluminium ist am wenigsten wert, dafür bekommt Schlehenkamp derzeit 200 Euro pro Tonne.

Der Rest ist verdichteter Eisenschrott, der neu eingeschmolzen werden kann. 250 Tonnen schafft die Anlage hier pro Tag, bei Bedarf sechsmal die Woche. In München wird das zerkleinerte Metall in spezielle Güterzugwagen verladen. 50 Tonnen passen in einen. Um 15.000 Tonnen über die Alpen nach Italien zu schaffen, sind 300 Waggons nötig. 50 Waggons bilden einen Güterzug mit der europäischen Maximallänge von 740 Metern. Der Schrotthandel hat in jeder Hinsicht gigantische Dimensionen.

Schlehenkamp mag aber auch kleine Dinge. Hinten in einer der Hallen, wo er aus Schrott Fahrradständer bauen lässt, damit die Firma ein bisschen vielfältiger wird, hat er eine Profi-Espressomaschine installiert. Durch seine Italien-Verbindung ist er mittlerweile Kaffee-Experte. Leider funktioniert das Gerät gerade nicht. Wenn es so weitergeht, landet es wohl bald im Schrott.

Dafür läuft es gut mit seiner Fußball-Leidenschaft. Selbstverständlich ist er als Dortmunder Borussen-Fan und fühlt eine tiefe Ablehnung gegen den Erzrivalen FC Bayern. Beide Emotionen lebt er neuerdings beruflich aus. Mit einem genialen Trick, wie Schlehenkamp findet. Die Alfa-Gruppe sponsert die „Löwen“ vom TSV 1860, dem zweiten Ligaverein in München. Wenn die kicken, hängen große Alfa-Plakate im Stadion: „Wir entsorgen Bayern.“ Ziemlich frech. Aber genau sein Ding. ---

Altmetall in Zahlen

Stahlproduktion in Deutschland im Jahr 2022, in Tonnen: 36.850.000
davon aus Stahlschrott, in Tonnen: 16.881.000
Export von Stahlschrott, in Tonnen: 7.805.000

Durchschnittliche Kosten einer Tonne Altstahl, in Euro: 325

Eingespartes CO2 durch Verwendung von 100 Tonnen Stahlschrott im Vergleich zur Verwendung von neuem Stahl, in Tonnen: 167
Quelle: Bundesvereinigung Deutscher Stahlrecycling- und Entsorgungsunternehmen e. V.

Recyclingquoten in Deutschland in der Metallproduktion, im Jahr 2022, in Prozent, von
Zink: 20
Kupfer: 40
Aluminium: 60
Blei: > 80
Quelle: Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe

Alfa-Gruppe
Absatz von Eisen im Jahr 2022, in Tonnen: 1.300.000
Absatz von Kupfer und anderen Metallen im Jahr 2022, in Tonnen: 100.000
Absatz von Sonstigem, in Tonnen: 350.000
Zahl der Mitarbeiter: 850
Umsatz im Jahr 2022, in Euro: 696.000.000
Quelle: Alfa Recycling München GmbH & Co. KG