Indien

Der digitale Bundesstaat

Diese Serie geht den großen Umbrüchen nach, die Indien derzeit durchlebt. Und sie begleitet Menschen, die durch diesen Wandel navigieren. Im fünften Teil zeigt der Bundesstaat Kerala der Welt, wie man Schulen digitalisiert. 




• Fathima Thamanna, 15, betritt den Klassenraum mit ihrem neuen besten Freund, einer Pappschachtel mit schwarzen Lederhandschuhen und Augen aus Knöpfen. Sie stellt ihn auf einen Tisch, sodass ihre Mitschülerinnen ihn sehen können, und drückt einen Schalter an der Seite. Der Kasten hebt den rechten Arm wie ein Soldat beim Exerzieren. Auf Kommando schüttelt er jeder die Hand, die sich ihm nähert. Fathima, die den höflichen Roboter programiert hat, strahlt über das ganze Gesicht.

Wir stehen im Computerlabor ihrer Schule in Kozhikode, einer geschäftigen Stadt an der indischen Malabarküste. Die erstreckt sich rund 650 Kilometer entlang des Arabischen Meeres. Kozhikode ist die größte Stadt im Norden von Kerala, dem südlichsten Bundesstaat Indiens.

Fathimas Projekt entstand erst vor wenigen Monaten, kurz nach den Sommerferien, und wurde durch einen seltsamen Besucher inspiriert. Als sie durch das Schultor trat, wurden sie und ihre Klassenkameradinnen von einem zwei Meter großen Roboter begrüßt, der in einem weißen Umhang über das Gelände fuhr. Er sah aus wie ein Priester mit einem Touchscreen als Gesicht. Wenig später wurde über den Robo-Besuch auf dem Youtube-Kanal der Schule berichtet, präsentiert von einem KI-generierten Nachrichtensprecher. Digitaler Alltag an Fathima Thamannas Schule. Und ein kleines Wunder.

Die staatlich geförderte Calicut Girls’ HSS ist eine Mädchenschule, in der jede Schülerin aus einer muslimischen Familie der Umgebung stammt. Bei der morgendlichen Versammlung kommen alle 2.600 Mädchen in gebügelten Uniformen und ordentlich gebundenen Hijabs auf dem Schulgelände zusammen, um lauthals die Nationalhymne zu singen.

Sie am Schulleben teilhaben zu lassen ist für die Schulleitung nicht nur eine administrative, sondern auch eine soziale Aufgabe: Indien hat mit 204 Millionen Menschen die drittgrößte muslimische Bevölkerung der Welt. Obwohl sie die größte Minderheit in Indien ist, hat sie nach wie vor mit Diskriminierung zu kämpfen und wird bei der Bildung, auf dem Arbeitsmarkt und von der Verwaltung oft benachteiligt.

„Wir leben in der Küstenregion. In Sachen Bildung sind wir rückständig. Vor allem Mädchen haben hier oft keinen Zugang zur Schule“, sagt die Lehrerin Femi (das ist ihr vollständiger Name). Die meisten Familien in den muslimischen Gebieten von Kozhikode lebten vom Fischfang, „manche gehören zur Mittelschicht, aber die meisten leben in sehr armen Verhältnissen“.

Umso beeindruckender muss die Schule für die Kinder aus diesen Familien erscheinen. Sowohl die Ausstattung der Klassenräume als auch der Unterricht selbst sind komplett digitalisiert. Fathima kam vor zwei Jahren auf Drängen ihrer Mutter hierher. „Jeder kennt diese Schule“, sagte die Neuntklässlerin, „sie ist berühmt dafür, dass sie die Schüler mit moderner Technik vertraut macht.“ Sie habe sich dort anfangs verloren und eingeschüchtert gefühlt, erzählt sie, „in meiner alten Schule gab es keine Computer. Nirgendwo ein Bildschirm. Hier benutzten die Lehrer in jeder Klasse Multimedia-Projektoren.“


Der Pappkamerad und seine Erfinderin: Fathima Thamanna mit ihrem Roboter (links) Fit in IT: Schülerinnen der Calicut High School für Mädchen in Kozhikode (rechts)

Keralas Sonderweg

Fathima freut sich auf den Besuch im Computerlabor, ihrem Lieblingsort. Dort können die Mädchen neue Tools und Gadgets ausprobieren und eigene Projekte vorantreiben, wie die Entwicklung eines Videospiels oder eines GPS-Ortungssystems für kleine Boote. Letzteres haben die Mädchen programmiert, erzählt die Lehrerin Femi, nachdem im vergangenen Jahr ein Ausflugsboot an der Küste von Tanur in der Nähe von Kozhikode gekentert war und 22 Menschen starben. Viele der Mädchen glauben, dass sie mit ihren IT-Kenntnissen Lösungen für die Probleme ihrer Region schaffen können. „Ich bin sehr stolz, hier zu sein“, sagt Fathima, während sie die Schaltung ihres Roboters neu justiert.

Wachsender Wohlstand und der Wunsch nach sozialem Aufstieg führen landesweit zu steigenden Einschulungsraten. Gleichzeitig hat das indische Bildungssystem mit massiven Qualitätsmängeln zu kämpfen (siehe Seite 22, „Das indische Bildungswesen“). Der Bundesstaat Kerala geht seit Jahrzehnten seinen eigenen Weg. Das indische Musterland hat eine beispiellose Digitalisierung seines Bildungssystems erreicht, die international Anerkennung findet (siehe Seite 22 „Schul-Digitalisierung“) und die Chancen auf einen der wenigen begehrten Hochschulplätze und qualifizierten Jobs erhöht, um die Abermillionen Schulabsolventen konkurrieren.

Damit geht der kommunistisch regierte Bundesstaat einen Sonderweg. Kerala hat sich seit seiner Gründung 1956 durch Sozial- und Bildungspolitik von einer der ärmsten Regionen des Landes zu einem Bundesstaat mit überdurchschnittlicher Alphabetisierungsrate und einem hohen Lebensstandard entwickelt.

Schon im Jahr 2001 rief das Bildungsministerium Keralas das Programm IT@School ins Leben. Zwei Jahre später wurde es in allen Schulen des Staates eingeführt. Eine Kernidee war, Lehrer für die digitale Transformation zu schulen, statt externe Ausbilder zu engagieren. Das Ministerium wählte dafür eine Gruppe technisch versierter Pädagogen aus, die dann als Master-Trainer ihre Kolleginnen und Kollegen ausbildeten.

Die Mathematiklehrerin Priya TM (im Süden Indiens nutzen einige Menschen nur die Initialen ihres Nachnamens) war die erste Master-Trainerin von IT@School in Kozhikode. „Das Ziel war, dass bis 2020 alle Fächer mit IT unterrichtet werden. Doch das war leichter gesagt als getan“, sagt sie bei einer Kanne Filterkaffee in einem der eleganten und klimatisierten Cafés an der weitläufigen Strandpromenade der Stadt. Gegenüber sitzen junge Paare auf den Felsen und suchen unter großen Sonnenschirmen Schutz vor der brütenden Hitze.

„Das größte Hindernis war das mangelnde Bewusstsein der Lehrer und in einigen Fällen ihre Abneigung gegen Computer. Diejenigen, die kurz vor der Pensionierung standen, waren besonders zurückhaltend“, erinnert sich Priya. Einige hatten noch nie einen Computer benutzt. „Wenn auf dem Bildschirm der Befehl erschien, eine beliebige Taste zu drücken, um fortzufahren, fragten sie uns, wo denn die ,beliebige Taste‘ auf der Tastatur zu finden wäre. Auch die Ausstattung war damals bescheiden: „Zwei Lehrer benutzten gleichzeitig einen Computer. Der eine drückte eine Taste, der andere eine andere.“

In den folgenden Jahren wurde das Programm ausgeweitet, und die Schulen wurden besser ausgestattet. Seit 2012 steht Informatik auf dem Lehrplan. Das allerdings änderte nichts am bundesweiten Trend: Immer mehr Eltern schickten ihre Kinder auf Privatschulen, um ihnen bessere Chancen für die Karriere zu bieten.

Im Jahr 2016 versprach die von der Communist Party of India geführte Left Democratic Front of Kerala (LDF) daher eine zweite Digital-Reform. Die Rede war vom „Neuen Kerala“ („Nava Keralam“), mit dem das Vertrauen in das staatliche Bildungssystem wiederhergestellt werden sollte. Das wenig bescheidene Ziel: Digitalisierung auf Weltniveau. Zur großen Überraschung gewann die LDF mit diesem Versprechen erneut die Wahl – in Kerala wird die Regierungspartei nur selten direkt in Folge wiedergewählt.

Im folgenden Jahr wandelte sie die IT@School-Initiative in einen Staatsbetrieb um und erhielt damit größeren finanziellen Spielraum. Das neue Unternehmen nannte sich Kite, und Anvar Sadath, der IT@School schon zwischen 2007 und 2012 geführt hatte, übernahm die Leitung. Seine Hauptaufgabe bestand darin, die IT-Infrastruktur auf alle 16.000 staatlichen und staatlich geförderten Schulen des Bundesstaates mit 4,5 Millionen Schülern auszuweiten. „2018 war das Projekt abgeschlossen. Jedes Klassenzimmer hatte einen Laptop, einen Projektor und Zugang zu Multimedia-Inhalten“, sagt Sadath.

Doch die beste Ausstattung bringt nichts ohne ein verlässliches und schnelles Internet. Daher gilt in Kerala seit 2017 der Zugang zum Netz als Teil des Grundrechtes auf Bildung. Er war der erste Bundesstaat Indiens mit einem solchen Gesetz. Die staatlich geförderte Glasfaser-Initiative soll alle Schulen Keralas mit schnellem Internet versorgen. Bisher ist das bei einem Drittel gelungen.


Kein Klassenzimmer ohne Laptop und Beamer: digitaler Unterricht in Kozhikode

Keine falsche Bescheidenheit

Als die Schulen wegen der Corona-Pandemie geschlossen wurden, konnte Kite seinen täglichen Unterricht schnell auf Youtube umstellen, damit die Schülerinnen und Schüler von zu Hause aus teilnehmen konnten. Mehr als vier Millionen Kinder hatten sich für den virtuellen Unterricht angemeldet, allerdings können rund hunderttausend von ihnen bis heute noch nicht daran teilnehmen: Nicht jeder Haushalt kann sich die dafür nötige Hardware leisten.

Aus Verzweiflung darüber, nicht am digitalen Unterricht teilnehmen zu können, weil ihre Familie keinen Computer besaß, beging 2020 eine Neuntklässlerin in einem Dorf in der Nähe von Kozhikode Selbstmord. Daraufhin erhielten rund 200.000 bedürftige Schülerinnen und Schüler kostenlos Laptops, die sie mit nach Hause nehmen durften.

Jeder Kite-Computer ist mit Open-Source-Software ausgestattet, die auf die Bedürfnisse von Lehrern und Schülern zugeschnitten ist – von speziellen Schriftarten für die Landessprache Malayalam bis zu einem Betriebssystem, das auch auf weniger leistungsfähigen Computern läuft. „Bis 2021 wird der Bundesstaat Kerala durch den Einsatz freier und quelloffener Software 30 Milliarden Rupien einsparen“, sagt Sadath nicht ohne Stolz, schließlich ist das eine Ersparnis von umgerechnet 335 Millionen Euro.

Inzwischen zeigen sich erste Ergebnisse der Politik für ein neues Kerala: Immer mehr Eltern nehmen ihre Kinder von den Privatschulen. Die Anmeldungen in staatlichen Schulen dagegen steigen: Von 2017 bis 2022 wurden fast eine Million Mädchen und Jungen umgemeldet.

Und das Programm wirkt über die Schulen hinaus: In den vergangenen Jahren haben die besonders begabten Schülerinnen und Schüler, die in das Programm der Little Kites aufgenommen wurden, rund 400.000 Eltern in Internetsicherheit und dem Erkennen von Fake News geschult.

Wie das funktioniert, zeigt Ayesha Amna, eine Schülerin der zehnten Klasse der Calicut Girls’ HSS. Um die Nachbarn in ihrer Gemeinde für Fake News zu sensibilisieren, erinnert sie an ein Video, das 2019 viral ging. Zu sehen sind darin zwei Leute, die angeblich Hühnereier aus Plastik herstellen. Die Stimme aus dem Off behauptet, Chinesen würden die gefälschten Plastik-Eier an arglose Kunden in Indien als echte Hühnereier verkaufen. Als immer mehr Menschen wegen dieser Behauptung misstrauisch wurden, gab die indische Behörde für Lebensmittelsicherheit eine Erklärung heraus, in der sie den Unfug entlarvte. Amna erklärte den Eltern und Nachbarn, dass es sich dabei um ein Scherz-Video handelt, das bereits seit 2017 kursiert – und wie man so etwas erkennen kann.

Stadt-Land-Gefälle

Doch zwischen dem städtischen und ländlichen Indien liegen auch in Kerala Welten. Innerhalb einer kurzen Autofahrt können sich die Realitäten radikal ändern. So gibt es etwa 150 Kilometer von Kozhikode entfernt, in einer Schule am Fuße eines Hügels, einen Raum voller Laptops, mit denen niemand etwas anzufangen weiß. Die Neeravaram High School ist eine von 301 staatlichen Schulen in Wayanad.

Vom westlichen Ende Kozhikodes führt eine kurvenreiche Straße steil bergauf. Die Landschaft ist geprägt von sanften Hügeln und dichten Wäldern. Nach jeder Haarnadelkurve steigen die Menschen aus ihren Autos, um die Aussicht zu fotografieren, bevor sie von Affenbanden, die ihr Revier bewachen, wieder in die Autos gejagt werden. Das kühlere Klima macht Wayanad zu einem begehrten Standort für Plantagen: Niedrige Tee-, Kaffee- und Pfefferbäume wechseln sich mit hohen Jackfrucht- und Betelnussbäumen ab. Dazwischen leben Hasen, Rehe und Elefanten.

An der High School von Neeravaram steckt die Digitalisierung noch in den Anfängen. Die Laptops liegen in einem Nebenraum gegenüber des schmutzigen Innenhofs in ordentlichen Reihen nebeneinander auf einem Marmorregal. Im vergangenen Jahr konnten die Schüler, die zu Hause keine Tablets oder Computer hatten, die Geräte mit nach Hause nehmen. Sie haben sie wieder zurückgebracht, und jetzt stauben sie vor sich hin.

Die Mehrheit der Bevölkerung von Wayanad gehört indigenen Gruppen an, die früher oft als Sklaven auf den Plantagen arbeiten mussten. Mehr als vier Jahrzehnte nach Abschaffung der Leibeigenschaft gehören diese Menschen noch immer zu den ärmsten Einwohnern Keralas. Heute arbeiten die meisten von ihnen als Tagelöhner auf Plantagen oder Baustellen. Männer verdienen sieben, Frauen vier Euro pro Arbeitstag, weit unter dem durchschnittlichen Lohn von zwölf Euro in Kerala.

Auch die Zahl der Schulabbrecher ist unter indigenen Kindern überdurchschnittlich hoch. In Teilen Wayanads, wo die Dörfer hoch auf den Hügeln oder tief im Wald liegen, ist der Schulbesuch wahrlich kein Kinderspiel. Nanjaramula, ein Weiler mit 15 Häusern, liegt fünf Kilometer von der Hauptstraße entfernt. Der Weg dorthin ist steinig und führt durch eine dichte Plantage aus Jackfrucht- und Betelnusspalmen, in der Mangobäume wie Wegweiser stehen. In ganz Kerala leben gut 90.000 Kinder in derart abgelegenen Gebieten. In Wayanad, wo die Regierung für jedes vierte bis fünfte Dorf eine Schule unterhält, schickt das Bildungsministerium jeden Tag ein Fahrzeug, um die Kinder zum Unterricht zu bringen.


Wartet seit Jahren auf einen Job bei der Regierung: die Hausfrau Namita aus Wayanad

Zurück zum Handy

Auf einem kleinen Hügel wohnt Namita. Ihr leuchtend gelbes Häuschen zeichnet sich grell ab von den hohen grünen Bäumen ringsum. Die junge Frau empfängt uns im Freien. Wie alle im Dorf gehören Namita und ihre Familie zum Stamm der Paniya, der 70 Prozent der indigenen Bevölkerung Wayanads ausmacht.

Die Paniyas sind stolz auf ihre Traditionen, doch auch ihr Leben hat sich verändert. Heute sind die Häuser nicht mehr aus Lehm und Bambus gebaut, sondern aus Beton. Die Gemeinschaft wählt immer noch einen Anführer, aber viel zu sagen hat der offiziell nicht.

Besserer Zugang zu Bildung hat diese Gemeinschaft sehr verändert. Mehr und mehr Kinder besuchen den regulären Unterricht, und der Abschluss der Highschool ist keine seltene Ehre mehr wie noch eine Generation zuvor. Denn die Jungen wollen nicht mehr als Teepflücker und Pfeffersammler enden, einige der Frauen träumen von Jobs in Regierungsbüros. Namita ist eine von ihnen, sie versucht schon seit Langem, eine Stelle im staatlichen Verwaltungsdienst zu bekommen. Jedes Jahr kommt sie im Auswahlverfahren ein Stück weiter. Aber die Konkurrenz ist groß.

Die Arbeitslosigkeit – vor allem unter gut ausgebildeten Menschen und insbesondere unter Frauen – sei eine der großen ungelösten Herausforderungen für das Entwicklungsmodell von Kerala, schreibt der renommierte Wirtschaftswissenschaftler KP Kannan in einem Papier aus dem Jahr 2022, in dem er die Bilanz des Bundesstaates von 1960 bis 2020 bewertet.

Im Jahr 2023 kam es im zentralen Distrikt Ernakulam zu einem so denkwürdigen wie bezeichnenden Spektakel. Es ging um einen körperlichen Eignungstest für einen Job in der Verwaltung. Ausgeschrieben war eine Stelle als Gehilfe in einem Regierungsbüro. Das Gehalt betrug gerade einmal 256 Euro pro Monat. Obwohl die Voraussetzungen lediglich darin bestanden, die siebte Schulklasse abgeschlossen zu haben und weitgehend unfallfrei ein Fahrrad fahren zu können, kamen Hunderte junge Arbeitssuchende, um auf einem offenen Gelände ihre Fahrtüchtigkeit auf dem Rad unter Beweis zu stellen – darunter auch Universitätsabsolventen und ausgebildete Ingenieure. Frauen und Menschen mit körperlichen Einschränkungen durften gar nicht erst teilnehmen.

Seit sieben Jahren bezahlt Namita jedes Jahr einen Online-Kurs, der sie auf die Prüfung vorbereitet. Ihn zu buchen war eine ihrer ersten Handlungen, nachdem sie sich ein Mobiltelefon gekauft hatte. „Mit einem Mobiltelefon können die Menschen das Formular für die Aufnahmeprüfung selbst ausfüllen, wofür sie früher in die Stadt fahren mussten“, erklärt Balan Kolamakolli, der Kite-Koordinator in Wayanad.

Doch die Geräte allein bringen noch keinen Wandel: Als die Kinder kostenlose Laptops mit nach Hause nehmen durften, seien viele zunächst begeistert gewesen, erinnert sich Balan, doch nach einiger Zeit hätten die meisten wieder zu den Handys ihrer Eltern gegriffen. Manche Familien wussten nicht, wo sie die Laptops aufbewahren oder wie sie diese warten sollten. 60 Prozent der Geräte waren nach einem Jahr beschädigt. Die Schulen nahmen sie zurück und verstauten sie in einem Nebenraum. Im Gegensatz zu ihren Altersgenossen in der Stadt bleiben die Schüler in den Dorfschulen meist aufs Handy angewiesen, um Informationen zu erhalten und Hausaufgaben machen zu können.

Namita hofft, dass ihre beiden Töchter bei den Prüfungen gut abschneiden. Die ältere Tochter besucht die zwölfte Klasse und will Lehrerin werden, die jüngere träumt von einer Karriere als Archäologin. Auf die Idee kam sie, nachdem sie einen Malayalam-Film gesehen hatte, in dem die Hauptdarstellerin Archäologin war. Als sie aus dem Kino kam, recherchierte sie auf dem Handy der Mutter auf Youtube, wie man Archäologin wird.

Ihre Mutter Namita versucht weiter, eine Stelle bei der Regierung zu bekommen. Ihre Freunde belächeln sie wegen der vielen vergeblichen Versuche, die sie im Laufe der Jahre gemacht hat. Sie kritisieren vor allem die üppigen 78 Euro, die sie jedes Jahr für die Video-Tutorials bezahlt, mit denen sie lernt. Doch sie lässt sich nicht davon abbringen. In diesem Jahr war ihr Name schon auf einer Nachrückliste für Bewerberinnen mit niedrigerem Rang, die im Falle der Ablehnung eines anderen Kandidaten zum Zuge kommen. Das macht ihr Hoffnung: „Vielleicht werde ich ja noch angerufen.“ ---

Musterländle Kerala

Geschichte

Bei seiner Gründung als Bundesstaat im Jahr 1956 war Kerala eines der ärmsten Bundesländer Indiens. Doch in den Achtzigerjahren hieß es bereits, der Lebensstandard seiner Bewohner sei mit dem vieler Industrieländer vergleichbar.

Seitdem haben Wissenschaftler verschiedener Disziplinen weltweit versucht, den Erfolg von Keralas Entwicklungsmodell zu analysieren. Sie kamen zu dem Schluss, dass Kerala auch in Phasen geringen Wachstums nicht an der Lebensqualität seiner Bevölkerung sparte, zum Beispiel nicht bei den Sozialausgaben (Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau, Nahrungsmittelhilfe).

In Kerala lag der Anteil der Sozialausgaben an allen Haushaltsausgaben 1980/81 bei knapp 46 Prozent, während andere indische Bundesstaaten mit einem Durchschnitt von knapp 30 Prozent weit zurücklagen. Laut Zensus von 2011 hat Kerala eine Alphabetisierungsrate von 96 Prozent im Vergleich zu 78 Prozent im ganzen Land.

Auch politisch verlief die Entwicklung dort anders als in anderen Bundesstaaten. Während weite Teile Indiens der hindu-nationalistischen Politik der Bharatiya Janata Party (BJP) folgten, entschieden sich die Wähler in Kerala für kommunistisch und sozialistisch geführte Koalitionen. Während in anderen Regionen trotz wirtschaftlichen Fortschritts die soziale Spaltung nach Kaste, Geschlecht und Religion fortbestand, strebte Kerala nach Gleichheit und Freiheit.

In den Neunzigerjahren gab es in Kerala eine beachtliche Mittelschicht, die die schnell wachsende regionale Wirtschaft stützte. Es entstanden lokale Industrien zur Befriedigung der Nachfrage vor Ort, vom Baugewerbe bis zum Einzelhandel. Im Jahr 1991 öffnete sich die indische Wirtschaft für globales Kapital, und eine Reihe von IT-Firmen siedelte sich an. Aber selbst diese Entwicklung konnte nicht mit den wachsenden Ansprüchen der Mittelschicht mithalten. Auch wenn der Bundesstaat als vorbildlich galt, wanderten viele junge, gebildete Menschen ins Ausland ab, weil es nicht genug anspruchsvolle und gut bezahlte Arbeitsplätze gab. In allen größeren Städten kam es immer wieder zu Protesten arbeitsloser Jugendlicher. Diese führten im Jahr 2016 zu einer weiteren Reform des Schulwesens.

Schul-Digitalisierung

Im Oktober 2020 verkündete der Ministerpräsident von Kerala, Pinarayi Vijayan, dass das öffentliche Bildungssystem des Bundesstaates „vollständig digitalisiert“ sei. Kein anderer indischer Bundesstaat war auch nur annähernd so weit. Kerala gab 6,6 Millionen Euro aus, um 45.000 Klassenzimmer digital auszustatten. Dazu gehörten neben Hardware wie Laptops und Beamer auch Lehrmaterialien und Video-Tutorials sowie ganze IT-Labore, in denen Dinge wie Robotik und Programmierung unterrichtet werden.

Dies geschah im Rahmen einer Regierungsinitiative namens Kite (Kerala Infrastructure and Technology in Education). In einem Land, in dem Schulbildung nach wie vor weithin vernachlässigt wird, gilt Kite als ehrgeizige Maßnahme. Seit 2020 haben mehrere indische Bundesstaaten versucht, das Modell zu kopieren. Im Jahr 2022 bezeichnete der wirtschaftliche Thinktank der Zentralregierung, NITI Aayog, das Modell als „eines der besten Modelle für die Entwicklung von Humanressourcen“ in Indien. Im Jahr 2023 lobte der Global Education Monitoring Report der Unesco unter anderem den Einsatz freier Software und das kostenlose Internet in Schulen.

Das Förderprogramm für begabte Schülerinnen und Schüler namens Little Kites wurde 2022 sogar von der finnischen Regierung importiert. Um einer der aktuell 170.000 Little Kites in Kerala zu werden, müssen die Schülerinnen und Schüler in einem Test unter die 40 Besten ihrer Schule kommen. Fathima Thamanna, von der in unserer Geschichte die Rede ist, hat den Test bestanden.

Das indische Bildungswesen

Das Bildungssystem in Indien gliedert sich in eine fünfjährige Grundschule, eine dreijährige Mittelschule und eine zweijährige Oberschule. Auf all diesen Stufen gehen mehr Kinder zur Schule als je zuvor. Im Zuge der rasanten Modernisierung des Landes sehen Eltern aus allen Schichten und Kasten Bildung als Bedingung für den Aufstieg ihrer Kinder. Die Mehrheit der Kinder besucht staatliche oder staatlich geförderte Schulen. Deren Anmelderate steigt stetig – von 65,6 Prozent im Jahr 2018 auf 72,9 Prozent im Jahr 2022. Allerdings ist das Niveau vieler Schulen niedrig, Tendenz weiter fallend. Eine Studie aus dem Jahr 2022 zeigt, dass die grundlegenden Lesefähigkeiten der Schüler im ländlichen Indien über alle Klassen auf das Niveau von vor 2012 gesunken sind. Die Rechenfähigkeiten wiesen ebenfalls gravierende Lücken auf.

Die härteste Prüfung steht indischen Jugendlichen nach dem Schulabschluss bevor. Wer aufsteigen will, konkurriert dann mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen landesweit um die Zulassung zu einer der wenigen Universitäten, die eine erstklassige Ausbildung bieten und damit auch die Aussicht auf eine Karriere. Wer die Aufnahmeprüfungen nicht besteht, muss sich entweder mit horrenden Summen von der Familie einen Studienplatz kaufen lassen oder sich mit einer weniger guten Uni zufriedengeben.

Und danach wartet auf sie ein indischer Arbeitsmarkt, der nicht genügend Stellen für qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber bietet.Ausgeschlossen vom raren Markt der hoch bezahlten Jobs, stehen Horden junger Hochschulabsolventen Schlange, um die schlecht bezahlten Stellen zu ergattern, die die Regierung anbietet – bei der Eisenbahn, bei Polizei und Sicherheitskräften, beim Militär und in der Verwaltung. In der Regel konkurrieren Millionen von Bewerbern um Hunderte von Stellen, die in den Zeitungen ausgeschrieben werden. An den Prüfungsorten gibt es oft Massenandrang und gelegentlich sogar Ausschreitungen.

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Diese Serie wird gefördert vom European Journalism Centre, im Rahmen des Solutions Journalism Accelerator. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.

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