Verena Bentele

Verena Bentele ist es gewohnt, als Erste durchs Ziel zu gehen: Als Profi-Sportlerin kämpfte sie lange vor allem für ihren eigenen Erfolg. Heute ist sie die Präsidentin des größten deutschen Sozialverbandes VdK – und als erster Mensch mit Behinderung in dieser Position für viele ein Vorbild. Wie führt Verena Bentele, die seit ihrer Geburt blind ist? Die Antwort gibt sie hier selbst.





• Ihren Wettkampfgeist, so erzählt es Verena Bentele, habe sie schon als Kind trainiert: Mit ihren beiden Brüdern kletterte sie auf dem Biobauernhof ihrer Eltern am Bodensee auf Bäume, fuhr mit ihnen um die Wette Rollschuh und Fahrrad – und schon mit drei Jahren das erste Mal auf Skiern die Pisten herunter. Selbstverständlich war das alles nicht: Denn Bentele und einer ihrer Brüder sind von Geburt an blind.

Die beiden Kinder gingen früh aufs Internat einer Blindenschule im Schwarzwald – und wurden dort zu sportlichen Höchstleistungen ermutigt. Bentele lernte Judo, Reiten und schließlich ihre Parade-Disziplinen: Skilanglauf und Biathlon. Mit 15 Jahren war sie Europameisterin, ein Jahr später gewann sie ihr erstes Gold bei den Paralympics, sieben weitere Medaillen folgten.

Dabei musste sich Bentele immer auf einen sogenannten Begleitläufer verlassen, der sie zum Beispiel vor Hindernissen warnt. Im Jahr 2009 hatten Bentele und ihr Begleiter mitten im Wettkampf ein Missverständnis – mit tragischen Folgen. Sie kam von der Strecke ab, stürzte und verletzte sich schwer. Doch schon ein Jahr später stand sie, an der Seite eines neuen Begleitläufers, wieder bei den Paralympics auf den Brettern – ihr Team gewann fünf Goldmedaillen.

Neben dem Leistungssport studierte Bentele Literaturwissenschaft und Pädagogik. Weil sie immer wieder Anfragen von Unternehmen bekam, die sie als Rednerin für Führungskräfte-Workshops zum Thema Motivation buchten, bildete sie sich zudem zum Coach weiter und machte sich nach ihrem Abschluss im Jahr 2011 selbstständig. Als sie sich für die Olympiabewerbung Münchens einsetzte, knüpfte sie Kontakte in die Politik, kandidierte für den Stadtrat, wurde gewählt – und legte ihr Amt nieder, nachdem sie 2014 auf Vorschlag der damaligen Arbeitsministerin Andrea Nahles zur Behindertenbeauftragten der Bundesregierung bestellt wurde. Es war das erste Mal, dass ein Mensch dieses Amt ausübte, der selbst ein Handicap hat.

Seit vier Jahren ist die sehr gut vernetzte und durch zahlreiche Talkshow-Auftritte und Interviews prominent gewordene Frau die Präsidentin des Bundesverbandes des VdK Deutschland. Der VdK ist mit mehr als zwei Millionen Mitgliedern, rund 60 000 ehrenamtlichen und mehr als 2000 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der größte deutsche Sozialverband. Er setzt sich für einen starken Sozialstaat und Gerechtigkeit ein. Dazu berät der Verband Menschen bei Renten- und Pflegeanträgen – und betreibt mit seinen hohen Mitgliederzahlen im Rücken Lobbyarbeit für die Interessen von Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind.

So übte Bentele zuletzt Druck auf die Bundesregierung aus, weil Rentnerinnen und Rentner bei der Energiepreispauschale zunächst leer ausgegangen waren. Im nächsten Entlastungspaket wurden diese dann tatsächlich berücksichtigt. Seit Verena Benteles Amtsantritt stieg die Zahl der VdK-Mitglieder deutlich an.

Wie hat die 40-Jährige den Sprung geschafft von der Sportlerin, die vor allem für sich kämpft – zur Anführerin, die sich erfolgreich für die Belange von Millionen Menschen einsetzt? Wie führt sie?


 

Abonnement fuehrung illu 0605

Illustration: Joni Marriott

Unser neues Abo für die Führung von morgen

Führung war nie einfach, wurde aber lange als eher lästige Nebensache behandelt. Doch inzwischen fehlt es überall an Arbeitskräften, von der Zufriedenheit der Belegschaft und der Motivation der Teams hängt die Zukunft vieler Firmen ab.

Führungskräfte von morgen brauchen jede Menge mehr Kompetenzen als früher, Empathie, Durchsetzungsvermögen, Weitsicht – und vielleicht manchmal Inspiration zur richtigen Zeit.

Mehr erfahren



Die Antwort gibt sie hier selbst:

„Als Führungskraft ist mir vor allem wichtig, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, für die ich Verantwortung trage. Der Vertrauensvorschuss im VdK war zu Beginn nicht bei allen groß: Denn in meiner Präsidentschaft ist, kurz gesagt, alles anders, als man es vorher kannte.

Ich bin die jüngste Präsidentin, die der Verband je hatte. Und ich bin die Erste in diesem Amt, die blind ist. Schließlich bin ich auch noch die erste Präsidentin, die für diese Aufgabe bezahlt wird. Meine Vorgänger haben ehrenamtlich gearbeitet, im Ruhestand. Die Bezahlung war für mich eine Grundvoraussetzung, um kandidieren zu können: Mit Mitte 30 stand ich bei meiner Wahl mitten im Arbeitsleben. So wie ich meine Führungsaufgabe verstehe, kann ich diese nicht mal eben nebenbei machen. Ich wollte von Anfang an klarstellen, dass ich viele Aufgaben anpacken und auch einiges verändern will.

Sportler sind Rückschläge gewohnt

Bevor ich zum VdK kam, hatten einige gehofft, ich würde mich nicht trauen, als Präsidentin zu kandidieren. Von einem älteren Herrn bekam ich den ‚wohlmeinenden‘ Rat, mich lieber nicht direkt für das höchste Amt aufstellen zu lassen. Aber mit Widerständen kenne ich mich aus, sie entmutigen mich nicht. Ich sehe sie als Trainingsmöglichkeit – dieser Blick kommt aus meiner Zeit als Leistungssportlerin. Man erlebt Verletzungen, Rückschläge, Niederlagen – und kann nur richtig erfolgreich werden, wenn man resilient ist, mit Frustration umgehen und sich immer wieder neu motivieren kann, weiterzumachen. Das Erfolgsgeheimnis ist, an sich und seine Fähigkeiten zu glauben.

In meinem Leben hat mich immer die Entscheidung für Mut und Vertrauen weitergebracht. Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten – und in andere Menschen, die mich begleiten, mich unterstützen. Das hat mir ermöglicht, mich auf dem Biobauernhof meiner Eltern als blindes Kind sehr frei zu bewegen. Es hat mir als Sportlerin ermöglicht, mir den passenden Begleitläufer zu suchen und mit seinen Kommandos als Leitlinie extrem schnell zu laufen. Ich wusste, dass ich genügend Kraft hatte, um den Berg schnell hochzukommen, und ich habe mich getraut, in richtig hohem Tempo hinunterzurasen, wenn es um die Goldmedaille ging.

Meine Erfahrung ist: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Ich habe als Sportlerin meinen Begleitläufern und ihren Kommandos voll und ganz vertraut. Nachdem das einmal richtig schiefgegangen war und ich dadurch schwer verletzt wurde, musste ich das Vertrauen wieder neu lernen – und konnte danach meine größten Erfolge feiern.


„Wir tragen Verantwortung für die Menschen, die wir führen.“

Es gibt heute einen großen Unterschied zum Sport. Als Führungskraft bin ich nicht angetreten, um überall die Erste zu sein, das ist nicht, was mich antreibt. Erste zu sein hat sich für mich oft ergeben – wohl auch, weil ich mir nicht gern sagen lasse, dass ich etwas nicht kann. Ich gehe lieber los als abzuwarten, mag Veränderung lieber als Verharren. Und es zeigt sich: Gerade weil ich anders bin, weil ich mit den Erwartungen breche, kann ich viel bewegen. Wir vom VdK bekommen viel Aufmerksamkeit für unsere Themen, können sie an den richtigen Stellen einbringen und Empathie wecken für die Probleme der Menschen, die wir vertreten. In meinem Podcast spreche ich regelmäßig mit prominenten und einflussreichen Menschen über die sozialpolitischen Herausforderungen unserer Zeit.

Es war für mich immer eine Motivation, Grenzen zu überwinden. Vorbild zu sein war jedoch nie ein bewusstes Ziel. Dass mich viele heute als solches ansehen, freut mich. Vor allem hoffe ich, dass meine Art der Problemlösung Menschen Mut macht.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Stärken vieler Menschen nicht gesehen werden. Für eine Beurteilung wird oft nur das Offensichtliche herangezogen. Viele haben bestimmte Vorstellungen davon, was jemand, der blind ist, kann oder nicht kann. Dann wundern sich diese Menschen, wie ich zum Beispiel Veranstaltungen moderiere. Sie können sich nicht vorstellen, wie das gehen soll, wenn ich die Leute nicht sehe. Was viele vergessen: Ich bin Profi im Blindsein und habe Techniken und Strategien entwickelt. Zum Beispiel machen sich die, die einen Redebeitrag bringen wollen, akustisch bemerkbar, damit ich sie auf die Rednerliste nehme. Das funktioniert wunderbar.

Wir sind schnell mit Urteilen über andere und ihre Fähigkeiten, da nehme ich mich nicht aus. Als Führungskraft ist es aber unser Job, es uns nicht einfach zu machen. Wir tragen Verantwortung für die Menschen, die wir führen.“ ---

0525 aboplus 01

Unser Führungsabo für 168 Euro

Im Abo enthalten:
🤿 vier brand eins deep Sessions zu Führungsthemen im Jahr
⛳️ Themenkollektion Führung
 📖 Print- und App-Ausgabe, dazu PDF und E-Book (epub, mobi)
📚 Zugriff auf das gesamte brandeins-Archiv auf brandeins.de

Jetzt bestellen

Mehr erfahren